Mein Vater war ein Flüchtling. Ein Mal wurde er umgesiedelt, mit 17 kam er mit seiner Familie in ein Lager ins polnische Gniezno. Hitler hatte Stalin das Baltikum geschenkt und die Baltendeutschen, die dort seit dem 12. Jahrhundert lebten – meine Familie kann ich dort bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen – mussten dann halt weg.
Beim nächsten Mal wurde er vertrieben, nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft durfte er natürlich weder nach Polen noch nach Estland, er gab die einzige Adresse in Westdeutschland an, die er kannte und zog nach Bückeburg zu Margarethe Musso, der Schwester seiner Mutter.
Seine Mutter und sein Vater waren auf der Flucht umgekommen.
Mit meinem Vater wurden zwischen 10 und 14 Millionen Deutsche aus den verschiedensten Gegenden vertrieben.
Und jetzt kommt der Punkt, um den es mir geht: Mein Vater hat sich komplett damit abgefunden. Sollte er in einen Vertriebenenverband gehen und dort Briefe an Breschnew formulieren?
Die Leute in den Vertriebenenverbänden nannte er Ewiggestrige und dieses Wort kommt mir auch in den Sinn, wenn ich die „Free Palestine“-Demos sehe. Da laufen 20jährige Ewiggestrige, die ein Land from the River to the Sea befreit sehen wollen, das sie gar nicht kennen.
Soll ich euch etwas von meinen Gefühlen für Estland erzählen?
Das war ein irgendwie im Winter sehr kaltes, anständiges, kleines Land. Und aus. Unsere Realität war das Rheinland, auch völlig in Ordnung, wenn auch sehr fremd für meinen Vater mit seinem Karneval, den christlichen Vornamen und dem Singsang der Sprache.
Mein Vater sprach das G in Giraffe wie das J in Jerome Boateng und rollte das R zart hinten im Rachen, aber er brachte mir nicht bei, Russen zu hassen oder mich ungerecht behandelt zu fühlen.
Als mein ältester Sohn einige Monate alt war, rannte meine Frau verzweifelt umher und suchte seinen Spezialschnuller. Ich sagte ihr, es sei in Ordnung, wenn er glaubte, den Schnuller zu brauchen. Es sei allerdings nicht in Ordnung, wenn sie glaubte, dass er den Schnuller brauche.
Kein Mensch braucht einen bestimmten Landstrich. Wenn dein Feind glaubt, er brauche ihn: Na dann. Soll er ihn haben.
Ich würde übrigens auch nicht für Luhansk sterben, aber das nur nebenbei: Free Palestine?
Da ist Israel. War es ungerecht, das 1948 genau da zu gründen? Vielleicht. Vielleicht was es gerecht. Was es auf jeden Fall war: 1948. Leute: Hand hoch, wer von euch da schon auf der Welt war. Oder wessen Eltern. Alles, was auch nur 1 Jahr vor meiner Geburt war, ist ewig. Israel ist superewig und bevor ich, wäre ich Palästinenser, auch nur den kleinsten Funken darauf geben würde, ob das nicht vielleicht meins ist, würde ich mich fragen, ob das nicht einfach völlig egal ist..
Mein Vater 1947: Vater tot, Mutter tot, Bruder Sven tot, Bruder Frederik tot, Schwager tot, Nichten tot, Neffen tot, das eigene kleine Kind: tot.
Und er baut eine Zukunft.
Vor einigen Wochen hatte ich den esoterischsten Gedanken, den ich je hatte.
Ich dachte an meinen Vater, wie er Ende 1946 in britischer Gefangenschaft war und zum ersten Mal Briefe von seiner Familie erhielt. In der kurzen Biographie, die mein ältester Neffe aufgeschrieben hat, heißt es: „Ende 1946 erhielt Niels die ersten Nachrichten von zu Hause: Es kamen Briefe der Eltern, die inzwischen auf der Flucht im Februar 1945 verschollen waren, und Briefe jüngeren Datums von Elske, Ben und Birgit sowie von Niels’ Frau Irmgard, die ihm von dem Tod seines Sohnes schrieb. Birgits Mann Andreas und ihre drei jüngeren Kinder waren im März/April 1945 bei Hof in Oberfranken einer Masernepidemie erlegen.“
Wie kann ein Mensch mit 25 mit so viel Leid umgehen ohne verrückt zu werden? Stellt euch vor, ihr würdet lesen, dass euer Kind tot ist. Und niemand, niemand weit und breit, der euch tröstet.
Mein Vater war der alleinste Mensch auf der Welt und jetzt kam der esoterischste Gedanke, den ich je hatte: Ich habe versucht, zu diesem unglücklichen, ungetrösteten und untröstbaren halben Kind Kontakt aufzunehmen und zu sagen: Es ist alles gut geworden. Du hast vier neue Enkel. Du hast der Welt so viel Glück gebracht. Du musst das jetzt aushalten, irgendwie und dann wirst du Tennis spielen und lachen und Batman spielen mit mir.
In etwas nüchtereren Worten habe ich kürzlich gelesen, man müsse nicht in erster Linie den Krieg gewinnen, sondern den Frieden.
Südkorea: Krieg unentschieden, aber den Frieden: gewonnen.
Jeder einzelne Mensch muss seinen Frieden gewinnen. Das Leben ist kompliziert genug, als dass man es dazu nutzen sollte, Staaten zu hassen. Stalin, die Sowjetunion, mein Vater hätte formidable Gegner gehabt für seinen Hass, aber er studierte lieber und gründete eine Familie.
Liebe, Entschuldigung, ist die deutlich bessere Investition.
Ein wunderbarer, berührender Text, den ich jetzt mit vollem Herzen, grenzüberschreitend-großflächig teilen werde. Danke dafür!